Benötigen wir individuelle Mikronährstoffsupplemente?
von Dr. Dr. med. Claus Muss, Augsburg

Der vorliegende Beitrag ist in den FOM-News 25/Februar 2006 erschienen .
PreventNetwork dankt dem Autor für die Überlassung des Textes.


Zusammenfassung
Chronische Erkrankungen sind wesentlich an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen beteiligt. Daher ist es besonders wichtig, durch Prophylaxe und Prävention das Risiko zu minimieren. Die orthomolekulare Medizin als wichtiger Baustein der Präventivmedizin kann
hier Wesentliches beitragen. Sie hat jedoch mit dem Image zu kämpfen, vor allem kommerziell begründet zu sein.

Sowohl die Studien, die die positiven Wirkungen der Mikronährstoffsupplementierung belegen, als auch diejenigen, die der orthomolekularen Medizin den Sinn absprechen, sind wissenschaftlich kritisch zu betrachten. Die DACH-Referenzwerte sind nicht ohne Weiteres auf den einzelnen Menschen übertragbar. Auf der Basis einer sorgfältigen Diagnostik können individuelle Mangelzustände hingegen exakt festgestellt und behoben werden. Der Ausgleich der Versorgungslücken trägt dann wesentlich zur Therapie und Prophylaxe bei.

Schlüsselwörter: Orthomolekulare Medizin, Mikronährstoffe, Mangelzustände, chronische Erkrankungen, Präventivmedizin

Die Meldungen über chronische Erkrankungen haben bei Kreislauferkrankungen um 70%, bei Tumoren um 65%, bei neurologischen Erkrankungen um 100% und beim Rheuma sogar um 130% zugenommen. Mindestens 30% der Bevölkerung leiden an chronischen Erkrankungen wie Allergien, Rheuma und Krebs. Behandlungsindikationen in den Praxen verteilen sich demgemäß auf 80% chronische Krankheiten und 20 % Akutkrankheiten (6).

Ohne Zweifel sind die chronischen Erkrankungen wesentlich an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen beteiligt. Die durchschnittliche Behandlungsdauer bei symptomorientierter Therapie beträgt 3–18 Jahre. Das erfordert bei einem chronisch kranken Patienten bis zu 1.000 Arztbesuche (6).

Aufgrund der Finanzierungsnot bei der Therapie kostenintensiver chronischer Erkrankungen hat die Gesundheitspolitik erkannt, wie wichtig es ist, frühzeitig die Eigenverantwortung der Patienten zu fördern, um durch Prophylaxe und Prävention zur Risikominimierung beizutragen. Diese Vorgehensweise ist langfristig der Gesundheit des Einzelnen förderlich und hilft die Kosten im Gesundheitssystem zu reduzieren. Immer mehr Patienten investieren gerne in ihre Gesundheit und sind zu einer gezielten Diagnostik und Prophylaxe bereit.

Die orthomolekulare Medizin in der Literatur
Die orthomolekulare Medizin erhebt nicht ohne Hintergrund einen wissenschaftlichen Anspruch. Die Wirkung der Vitamine, Spurenelemente, Mineralstoffe, Fett- und Aminosäuren ist in der medizinisch wissenschaftlichen Literatur bei gezielter Prophylaxe und Therapie gut belegt. Trotzdem wird besonders aus Kreisen der Ernährungsmedizin die Bedeutung einer antioxidativen Therapie immer noch aufgrund angeblich mangelnder evidenzbasierter Daten in Frage gestellt (5).

Die Forderung nach evidenzbasierten Studienergebnissen in der Orthomolekularen Medizin darf jedoch nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass die Supplementierung mit Mikronährstoffen immer dann den besten Erfolg verspricht, wenn sie wirklich bedarfsgerecht erfolgt. Die Krankengeschichte, das Ernährungsverhalten und Alter sind nur einige wenige Parameter, die dazu beitragen, dass dieser Bedarf nicht selten in den Patientengruppen divergiert (9). Wissenschaftliche Studien zum Nutzen der Orthomolekularen Medizin tragen diesem Umstand nur selten Rechnung.

Auch liegen in zahlreichen Interventionsstudien die Supplementierungen bezüglich Dosis und Charge nicht genau definiert vor. Ein solcher Studienbias kann letztendlich zu konträren Studien Ergebnissen beitragen. Es stellt sich daher berechtigt die Frage, ob mit den zur Zeit durchgeführten Studiendesigns der Nutzen der Vitalstoffzufuhr korrekt untersucht werden kann.

Ein Beispiel hierfür bietet die Diskussion um den Einsatz von Vitamin E. Forscher der John-Hopkins-Universität beurteilten den gezielten Einsatz hoch dosierter Antioxidanzien, z. B. die Einnahme von Vitamin E negativ. Die Einnahme von 400–2.000 IE/d erhöhe sogar die Sterblichkeitsrate (5). Diese Daten stehen jedoch im Widerspruch zu Studien mit großen Fallzahlen wie der Nurses Health Study mit über 80.000 (3) oder der Health-Professionals-Studie mit 39.000 bzw. der EPESE-Studie mit 11.000 Teilnehmern, die bei Vitamin E günstige Effekte in der Primär- und Sekundärprävention auf die Morbilität und Mortalität von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zeigten.

Diese konträren Ergebnisse werden verständlich, wenn die erheblichen Mängel in Bezug auf die inhomogene Zusammensetzung der untersuchten Patientengruppen, Geschlecht, Alter und Medikation berücksichtigt werden. Eine Differenzierung der Schweregrade der Risikogruppen wurde in der o.e. Metananlyse der Studiendaten ebenfalls unterlassen. Da auch das eingesetzte Vitamin E (synthetisches/natürliches/a-Tocopherol etc.) nicht weiter differenziert wurde, ist die Metaanalyse ein Beispiel für die Sinnlosigkeit so mancher wissenschaftlicher Anstrengungen (4).

Sinn der orthomolekularen Medizin
Benötigen wir nun überhaupt die Supplemente zur Nahrung? Oder erhalten wir alle lebenswichtigen Nahrungsbausteine durch eine ausgewogene Ernährung? Bei der Orthomolekulare Medizin handelt es sich um den Ausgleich individueller Versorgungslücken durch die Supplementierung mit Mikronährstoffen.

Epidemiologische Daten aus der Ernährungsmedizin implizieren häufig eine optimale Versorgung mit Makro- und Mikronährstoffen. Diese Studien orientieren sich an den so genannten "DACH-Referenzwerten", von denen angenommen wird, dass sie alle Bevölkerungsgruppen vor ernährungsbedingten Gesundheitsschäden schützen und für eine volle Leistungsfähigkeit sorgen (2). Diese Referenztabellen setzen sich jedoch aus Werten zusammen, die lediglich für den Mittelwert der Altersgruppen berechnet wurden. Es ist problematisch, wenn auf dieser Basis eine über die Ernährung hinausgehende Vitalstoffzufuhr abgelehnt wird.

Die Autoren der DACH-Referenztabellen selbst konstatieren, dass sich die Werte nicht auf die Versorgung von Kranken und Rekonvaleszenten beziehen. Die Werte sind auch nicht ausreichend, um bei Personen mit manifestem Nährstoffmangel entleerte Speicher wieder aufzufüllen. Auch Patienten mit Verdauungs- und Stoffwechselstörungen sowie regelmäßigem Alkoholkonsum oder regelmäßiger Medikamenteneinnahme sind nicht berücksichtigt worden. Leider wurde bei den meisten großen epidemiologischen Erhebungen das untersuchte Patientenklientel auf diese Ausschlüsse nicht selektiert. Deshalb liefern solche Studien bzw. Metaanalysen keine verlässliche Basis zur allgemeinen Beurteilung der Mikronährstoffsupplementierung in der Bevölkerung.

Eigene Untersuchungen
Eigene Untersuchungen zeigten im Patientenkollektiv bei der Eingangsuntersuchung in der Praxis eine deutliche Unterversorgung mit bestimmten Vitalstoffen. Diese Patienten wurden in einem Zeitraum von einem Jahr mit unterschiedlichem Beschwerdebild erfasst.

Bei unseren Patienten wurde jeweils eine quantitative Bestimmung der Parameter, Zink, Selen ß-Carotin Vitamin E sowie Vitamin C durchgeführt. Die Pränalytik und Analytik wurde nach standardisierten Methoden im heparinisierten Vollblut durchgeführt (1). Die Referenzbereiche wurden für diese Untersuchung den Laborangaben für das Normkollektiv entnommen. Über die Bestimmung der quantitativen Parameter hinaus, erfolgte auch die Bestimmung qualitativer Parameter des oxidativen Stresses wie z.B. die antioxidative Kapazität (TAS) und Lipidperoxidation bei allen Patienten. Die Patienten hatten zuvor keine Mikronährstoffe eingenommen.

In unserer Untersuchung zeigten sich im Praxisklientel (n=100) Defizite in der Selen- und Vitamin-C-Versorgung (68% mit Selenmangel, 23% mit Vitamin-C-Mangel). Das Klientel hatte auch einen Mangel an Ubichinon (Q10), ß-Carotin und Vitamin E (Abb 1). Die zusätzlich erhobenen Parameter wie die Antioxidative Kapazität (TAS) und die Lipidperoxidation korrelierten positiv bzw. invers signifikant mit der Bestimmung des Selens und Vitamin C-Gehalts im Vollblut (jeweils p<0,01). Vitamin E- und ß-Carotin-Konzentrationen korrelierten darüber hinaus mit dem Parameter Lipidperoxidation invers signifikant (p<0,05).

Abbildung 1:
Erhebung der Mangelsituation durch Blutuntersuchungen in der Praxis


Die Therapie dieser untersuchten Patienten erfolgte nach individuellen Bedarf ( mit jeweils 100-300 µg Selen, 250-500 mg Vitamin C bzw. 20-40 mg Zink) zeitlich- und dosisbezogen unterschiedlich bis zum Erreichen der jeweiligen Normwerte in den Laborkontrollen (Beispiel siehe Abb 3). Die maximale Supplementierungsphase dauerte bis zu 16 Wochen. Während der Supplementierung wurden die Patienten regelmäßig ärztlich untersucht und die von den Patienten bemerkten Fortschritte in Bezug auf die beklagten Beschwerdebilder protokolliert.

Der Behandlungserfolg wurde von den Patienten mit Allergien und rheumatischen Beschwerden jeweils mit sehr gut (N=3/10) gut (N=6/28) und befriedigend (N= 2/7) eingestuft. (N=0/2) Patienten bemerkten dagegen keine Besserung im klinischen Erscheinungsbild während der Supplementierung.

Praktisches Fallbeispiel einer erfolgreichen Supplementierung mit
Überwachung durch Laborkontrollen
(Abbildung 2)
Patient männlich 48 Jahre. Seit Kindheit atopische Derrmatitis, wiederkehrende Schübe einer Neurodermitis. Externe Vorbehandlung mit Hydrocortison. Befund: Abnahme des starken Juckreizes, verbesserte Rückfettung, Abnahme entzündlicher Effloreszenzen.

Die vorliegenden Befunde dieser Praxisstudie deuten auf einen besonderen Mikronährstoffbedarf bei disponierten Patienten hin. Der oxidative Stress wird als Auslöser vieler verschiedener degenerativer und entzündlicher Erkrankungen diskutiert (7). V. a. in der Rekonvaleszenz und in der Erkrankungsphase klafft eine Versorgungslücke mit antioxidativ wirkenden Vitalstoffen die den oxidativen Stress limitieren.

Die Prophylaxe und Therapie in der Präventionsmedizin basiert auf dem Erkennen dieser individuellen Bedürfnisse. Während Standardempfehlungen im Präventivbereich hilfreich können, muss bei einer kausalen Behandlung mit orthomolekularer Medizin der individuelle Bedarf und ggf. Mangel gesichert werden. Dies erfordert die genaue Kenntnis funktioneller und biochemischer Zusammenhänge, die für die Genese der Krankheit entscheidend sind.

Exakte Diagnose ermöglicht fundierte Therapie
Die Diagnose eines Mangels wird häufiger gestellt als die “zugehörige” Krankheit diagnostiziert werden kann, weil sich nicht immer aufgrund des Mangels Krankheitssymtome sofort erkennen lassen. Der Mangel an essentiellen Vitalstoffen geht jedoch einem Funktionseinschränkung voraus (1). Die Labordiagnose stützt sich auf standardisierte Technik und berücksichtigt die notwendigen Kautelen der Pränalytik so dass reproduzierbare und quantifizierbare Ergebnissen produziert werden.



Abbildung 2
Zwischen den beiden Befunden lagen etwa 10 Wochen.


Zur rationellen Diagnostik gehört neben der Quantifizierung von Vitaminen und Spurenelementen in verschiedenen Körperkompartimenten auch die funktionelle Aktivitätsanalyse assoziierter Enzymkomplexe. In diesem Zusammenhang sind besonders die Aktivitäten der antioxidativen Enzyme relevant, die zur Nivellierung des oxidativen Stresses im Organismus beitragen (6). Die gezielte Diagnose und individuelle Therapieverlaufskontrolle lässt sich jedoch mit dieser Diagnostik ausreichend präzisieren (1).

Bei der bedarfsgerechten Supplementierung mit essentiellen Mikronährstoffen handelt es sich um das Grundprinzip der Orthomolekularen Medizin. Der Patient hat einen Anspruch auf Maßnahmen, die dazu führen, dass der diagnostizierte Mangel behoben wird. Der Orthomolekular Therapeut hat die individuelle Supplementierung bei seinem Patienten anhand des vorliegenden Riskoprofils in Verbindung mit der notwendigen Diagnostik abzustimmen. Die Orthomolekulare Medizin stellt damit eine unverzichtbare Ergänzung zur Behandlung mit Makronährstoffen in der Ernährungsmedizin dar.

Weitere Informationen beim Autor.

Literatur
  1. Böhm U, Muss C, Pfisterer M.: Rationelle Diagnostik in der Orthomolekularen Medizin. Stuttgart: Hippokrates 2004
  2. DACH Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. 1.Auflage Frankfurt am Main Umschau/Baus (2000).
  3. Diaz et. al.: New England Journal of Medicine, vol 337, Aug 7, 1997, pp 408-416.
  4. Friedrichsen H-P, Gröber U, Böhm U.: Stellungnahme zur Vitamin-E-Meta-Analyse. Zs f Orthmol Med 2005;1:20-2
  5. Heyden, S. Antioxidantien in der Krebstherapie und Prävention der Demenz. Akt Ernaehr Med 2005;30:88-92
  6. Mayer W. Bieger W.: Diagnostik von chronischen Multisystemerkrankungen / Chronic Multisystem Illness. J f Orthomol Med 2003;4:391-404
  7. Wirleitner B, Schröcksnadel K, Winkler C et al.: In Vivo determination of Oxidative Stress. Akt Ernähr Med 2003;28:363-370
  8. Zimmermann et al. Burgersteins Handbuch Nährstoffe. 10.Auflage MVS Medizinverlage Stuttgart 2002
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